Sonntag, 4. April 2004

April 2004 Berliner Morgenpost über SCHROTTFISCH



Morgen sind wir Helden

Der Sound der Großstadt: Rauschen. Hupen. Fluchen. Weiterrattern. Eine Frage sorgt für Stirnrunzeln und Kopfschütteln bei Passanten: "Wer oder was ist Schrottfisch?" "Wat wollen Sie denn?", knurrt ein junger Mann mit Schnauzer plus Baseballkappe. "Irgendso'n beschissenet Schwimmtier, tipp ick jetze mal." In der Café-Filiale von "Balzac" sind die Berliner angewärmt, gesprächsbereiter und auf der richtigen Fährte: "Mein Bauch meint Metallcombo", sagt Anne aus Pankow. "Oder doch eher ne Punkband. Klingt jedenfalls krass daneben." Sie kichert erst und zweifelt dann: "Muss man die etwa kennen?" Müssen? Nein. Können? Jein. Wollen: Ja. Im Knaack Club: Jule und Franzi aus Potsdam sind beide 18, besuchen die 12. Klasse, tragen Schlaghosen und strahlen, wenn sie von Schrottfisch schwärmen: "Die Jungs sind einfach genial anders. Nicht so pseudophilosophische Krampfbacken, sondern Pop. Aber im guten, klugen Sinne. Iljas Texte sind wahr und schön." Ah ja. Dass ihre Lieblinge noch unbekannt sind, juckt die Mädchen nicht. Sie finden: Wer in Deutschland bekannt ist, wird versaut.
2. Dezember 2003, Café En Passant: dunkles Holz, dämmeriges Licht, Schachbrett neben Weizenbier, Gemütlichkeit statt Coolness. Direkt am Eingang sitzen drei Jungs Mitte zwanzig, sie quatschen, sie lächeln. Das erste Mal Schrottfisch ist ein wohlig-warmes Gefühl: Herrje, sind die nett. Und so - Verzeihung! - stinknormal. Gut sehen sie aus, aber nicht beunruhigend scharf, sie wohnen in Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Neukölln, frieren vor ihren Ofenheizungen oder haben Stress mit der WG. Versprühen Kuschelharmonie statt Sexexplosion.

"Wir machen so Liedermacherindierock", sagt Maggi. Wild und gefährlich geht anders. Doch irgendwo hinter dieser Freundlichkeit muss es schlummern, das funkelnde Geheimnis. Schließlich haben die Herren gerade einen der famosesten deutschen Talentwettbewerbe gewonnen: den John-Lennon-Talent-Award. Sie siegten gegen 3000 eingesandte Tapes und triumphierten beim Finale in Kiel über 20 Gruppen aus den Kellern dieses Landes. Jetzt winkt ihnen eine 15 000 Euro schwere, einjährige Förderung. Wie fühlt es sich an, die Poprockzukunft von morgen zu sein? Stehen die Plattenfirmen Schlange? Werfen die Mädchen nun Tangas?

"Klingt großkotzig, aber: Dieses verdammte Popgeschäft hat uns die Illusionen ausgetrieben. Unser Wunsch ist einfach nur die erste richtige Platte", sagt Ilja. Maggi und René nicken synchron: "Wir haben halt keinen Bock auf Bravo-Starschnitt." Einen Major Deal mit einer Pophitfirma hat man schon in den Wind gehauen. "Es geht uns darum, nicht alles mitzumachen. Niemals die Kontrolle verlieren. Was haben wir auch mit Konsorten wie Kübelböckchen gemein? Nüscht."

Dabei verfolgen doch beide dasselbe Ziel: Sie wollen in Deutschland tönend erfolgreich sein. Daniel K. war es bereits in Sternschnuppenmanier - einmal strahlen, schnell verglühen. Schrottfisch kämpfen bereits seit acht Jahren. Die Bescheidenheit der Jungs ist mehr als eine kokette Pose - sie entspringt dem ständigen Versuch, einem Land in die Ohrmuscheln zu kriechen und dort kleben zu bleiben. Einmal dachten sie bereits, dass der große Sturm endlich loswirbelt. Wir waren wie Riesen bei unserem allerersten Mal/ wir hatten bewiesen, dass man uns richtig empfahl Als sie vor drei Jahren bei einer Talentshow von Radio Fritz in den Himmel gelobt wurden, kurz darauf im Tempodrom mit Größen wie Seeed rockten und auf den Sampler "Berlin macht Schule" gepresst wurden. Sie waren bereit, es kribbelte in den Fingerspitzen und hämmerte im Kopf: Jetzt geht's los. Es geschah - nichts. In der Lounge brennt das Büfett / No more Artist/No more Artists/Wollen wir wirklich richtig wichtig und befreundet sein mit eurem Spaßverein Rückblick: 1995, Berlin Köpenick. Ilja Schierbaum ist 17 und einer von den Menschen, die brennen. Er träumt davon, Schauspieler zu werden, verschlingt Hermann Hesse, steht auf schräge Punkmusik, bastelt an eigenen Hörspielen und schrammelt Gitarre. Trifft auf Steffen Magirius und René Lindstedt. Es macht Klick - man passt zusammen. Die Schlagzeuger wechseln in Windgeschwindigkeit, die Stile auch, heute Punk plus Puppentheater und morgen Schnulze. Hauptsache "die Musik packt dich an den Eiern", sagt Maggi. Ilja ist Geschichtenerzähler und Poet, er singt deutsch zu betörenden Melodien, die Mädels lieben es, die Jungs werfen schon mal mit Tomaten.
Ilja schmeißt die Schule, malocht auf dem Bau, zieht nach Leipzig zum Schauspielstudium und reist jedes Wochenende nach Berlin zu seiner Band, "damit ich nicht den Boden verliere". Maggi studiert Elektrotechnik, René verkauft Jalousien. Das Leben plätschert dahin, die Band hält zusammen. Die nächsten Jahre sind Lektionen in Langsamkeit.
9. Dezember 2003. Treptow, Berliner Vorstadtcharme in Reihenhaustakt, ein Bürokomplex, ein Raum im achten Stock, große Fenster, Bierkiste in der Ecke, Plattencover an den Wänden. Die Herren proben. Ilja trägt Cordhose und Schlabbershirt: "Wo wollten wir hin? Was wollten wir werden? Außer nicht älter?", singt er, die Gitarre schwebt, es klingt verspielt und melancholisch, als würde Element of Crime frech mit U2 knutschen und von Keimzeit die Füße gekrault kriegen. Ilja ist das Zentrum der Band, ihr Kopf, ihr Charme. Seine Texte sind Alltagsminiaturen, kunstvoll, ein bisschen altklug. Es geht um Berlin und die Liebe, um Herzsehnen und Kopfkino - ein Wühltisch der großen Gefühle. Schlagzeuger Nr. 4 ist Leonardo v. Papp, und er ist ein Profi, sein Beat groovt, und Iljas Stimme tanzt glücksatt: Und all das war und all das ist, und all das will bedeuten/ eine schöne Zeit.
In ein paar Tagen treten sie erneut am Caroussel-Theater auf. Bühnenmusik als zweites Standbein. Doch die Leidenschaft, der Schmerz und die Wut lodern in den eigenen Liedern. "Ich will nicht ewig ausführendes Organ sein. Ich möchte existenzielle Geschichten erzählen. Geschichten, die jeden angehen." Derzeit probiert sich Ilja am politischen Liebeslied. "Ich möchte ausdrücken, warum ich mich in diesem System nicht wohl fühle." Auf Suche nach der passenden Form zum guten Ton. Die Band spielt "Raumschiff", ein Lied über Heinz, den Astronomen. Draußen glitzert der Himmel über Berlin.

Sonnabend, 12. Dezember 2003. Die Plattenmajors fusionieren um ihr Leben. Salzau, im flachsten Schleswig-Holstein, graue Luft und satte grüne Wiesen, ein Herrenhaus ruht am anderen. Hier veranstaltet die Itzehoer Versicherung im Rahmen des Talent-Awards ein Wochenende Unternehmensberatung für die Halbfinalgruppen. Produzenten, Texter, Stylisten und Anwälte sind hergeeilt - die Praxis spricht, der Patient lauscht. "Wer von euch will reich und berühmt werden?", fragt Frank Dostal vom Coaching Team. 50 Männer und drei Frauenarme hängen in der Luft, Augenringe allerorten, die Nacht noch in den Knochen, Whiskeygeschmack auf der Zunge. Dostal sagt: "Kein Schwanz da draußen wartet auf euch, kapiert?" Und: "Wenn die Plattenfirma-Yuppies Scheiße zum Klingen bringen könnten, würden sie es tun." Produzent Heinz Canibol schwört: "Der Markt braucht euch Künstler mehr denn je." "Typen wie den müsste man erschießen", flüstert Ilja, "die sind schuld dran, dass die Kunst vor die Hunde geht. Sie quetschen dich aus wie 'ne Zitrone und werfen dich in den Müll. Wir müssen uns doch entwickeln." In Salzau wirken Schrottfisch wie Liebhaber unter lauter Draufgängern.

René, der schwierige Schweiger, der mit der Freundin am Stadtrand lebt, David Bowie und U2 verehrt und von dem Maggi sagt: "Er hat schon ne Sozialphobie" und "so langsam taut er auf." Maggi, der Niedliche, der Bodenständige, der Schwiegermamatraum, der gerade die Diplomarbeit beendet, Sicherheit braucht und für Harmonie in der Band sorgt. Wegen dem weibliche Fans schon mal aufgeregt auf der Clubtoilette hauchen: "Er ist sooo süß und hat mich angeschaut." Ilja, der Herzensknacker und passionierte Angler. Er wollte immer spielen, erst Theater, dann Musik. Ilja ist Idealist - er glaubt: "Wenn meine Lieder nur in einem einzigen Menschen etwas auslösen, hab ich schon gewonnen." Er strahlt, als er sagt: "Es ist ein Lebensglück, in eigener Sache unterwegs zu sein." Die Entscheidung des John-Lennon-Talent-Awards für Schrottfisch war ein Votum gegen das reine Entertainment. Dort wo andere Bands posen, machen sich Schrottfisch tatsächlich nackt, weil sie meinen, was sie singen. Und somit verwundbar werden.

Ilja sagt: "Wenn ich mein Herzblut reinstecke, kann ich das doch nicht verarschen." Schrottfisch sind eine aussterbende Art: Gutmenschen. Die Realität schlägt zurück, in Form des fülligen Popjournalisten Jürgen Stark: "Die Kardinalblödheit im Popleben lautet: Ich will so bleiben wie ich bin. Schminkt euch dieses 68er-verseuchte Authentizitätsgeseier ab. Die zehn Gebote des Business lauten: Ich muss anders, besser, besser drauf, fitter, jünger, schöner, überraschend, schneller, sexy und manchmal auch gar nicht sein." Die Testosteronmenge kritzelt mit. "Seid cool, unnahbar, seid wahnsinnig, verhüllt den Eiffelturm", wettert Stark. "Kein Mensch will nettes Mittelmaß, die Mädels müssen sich bestenfalls vor Aufregung in die Hosen pissen." René schüttelt den Kopf. Maggi sagt: "Wenn wir jetzt ne Platte machen, muss die knallen. Ne zweite Chance kriegst du nicht."
Am nächsten Abend, im Auto. Zurück nach Berlin zur blauen Stunde. Die Beratung mit dem Förderteam hinterlässt Ratlosigkeit. Kontakte winken, die Platte schwebt weiterhin im Ungefähren, alles ist möglich und nichts auch.

Auch ein Talentpreis garantiert keine Füße küssenden Plattenfirmabosse. "Es ist schon frustrierend", sagt Maggi, "ich hab einfach keine Lust mehr immer nur zu warten, dass es endlich losgeht." Und: "Wieso haben wir nicht endlich die Chance, zu beweisen, dass wir es können?" Der Wunsch ist klarer geworden: eine Platte bei dem kleinen Label Tapete Records zu machen. "Bei denen muss man sich nicht verbiegen oder im Dschungel in Kakerlaken baden."
Zwei Monate später, 15. Februar 2004, eine Bar in der Karl Marx-Allee: Die Musikbranche steckt in ihrer größten Krise, die Plattenfirmen setzen lieber auf Dudelpop als auf Gitarrenrock - anstatt das Musiker gefördert werden, verheizt man lieber Gesangdarsteller. Es war selten so schwer wie heute, als junge Band im Musikbusiness erfolgreich zu sein. Derzeit spielen Schrottfisch am Potsdamer Hans-Otto-Theater ihre Musik in dem Stück "Die neuen Leiden des jungen Werther". Doch Weltschmerz ist ein Luxus. Heulen können sich andere leisten, privat zu leben auch. Der eigene Traum ist eine Diva: man darf ihn keine Sekunde vernachlässigen. Ilja philosophiert: "Ick sach immer: Das Lebendige liegt in der Reibung. Wenn alles schön ist, wirst du bequem und schläfst ein. Nur wer kämpft, weiß, dass er noch tickt." Maggi boxt ihm in die Seite und prustet los: "Jenau." Man sieht, sie sind Freunde. Man spürt, sie haben das Nötige, um voranzukommen: Talent, Humor und Selbstzweifel. Man weiß, sie haben keine andere Wahl. Sie werden weiterwarten, mit gedrückten Daumen und einem Grinsen. Den naiven Glauben auf schnellen Ruhm und Geld haben sie längst aufgegeben. Stattdessen pflegen die Schrottfischjungs lieber das Prinzip Hoffnung. Sie fiebern dem ersten Album entgegen- obwohl ein Plattendeal noch fern scheint. "Schrottfisch ist unser Lebensgefühl." Ilja beugt sich weit vor, als verrate er aus reinem Übermut gleich sein bestes Geheimnis: "Es gibt Leute, die knacken Autos", sagt er, "und dann gibt es halt so Leute, die spielen in Bands."

Donnerstag, 1. April 2004: Ein Anruf und die dringende Frage: "Was macht die Musikerkarriere, Jungs?" Die Herren kommen gerade aus dem Proberaum. Maggis Stimme klingt unsicher: "Wir möchten nix Konkretes sagen." Und dann erzählt er doch: Davon, dass sie in den letzten Wochen von mehreren Plattenfirmen beschnuppert wurden, dass die Herren Manager sie überall "sehr interessant" finden, aber noch immer kein Plattenvertrag unterschrieben wurde. Dass im Februar ein Bandtief herrschte, man sich am Erfolg des Theaterstücks hochzog und neue Songs schrieb. "Unterschrieben ist noch nix.", seufzt Maggi. "Liebe Plattenfirmen, noch habt ihr die Chance." Die Jagd nach den neuen Helden kann beginnen.

Donnerstag, 1. April 2004

Donnerstag, 5. Februar 2004

Februar 2004 Hans Otto Theater / Potsdam

"Die neuen Leiden des jungen W."
Hans Otto Theater / Potsdam
von Ulrich Plensdorf
mit
Ilja Schierbaum, Sonja Grüntzig u.a.
Band
Schrottfisch
Regie
Jörg Seyer

Ton, FOH
Fernand Kenzler

www.hot.potsdam.de